Wenn die Toaka ruft

Die Huzulen – Ein vergessenes Volk in den Karpaten

Dr. Claus Stephani

(Erschienen in: Neue Zürcher Zeitung (Zürich), Nr. 280, 2.12.2002, S. 26.)
Veröffentlicht mit Genehmigung des Autors, 1. Januar 2003


Am Rande der östlichen Waldkarpaten, im rumänischen Teil der Bukowina, gibt es einen Ort, den kaum jemand kennt, Lucina (Lutschina), obwohl diese kleine Siedlung von Hirten und Bergbauern, mit weit verstreuten Weilern, bereits auf österreichischen Landkarten des 19. Jahrhunderts zu finden ist. Als die Bukowina, das Buchenland, noch zum riesigen Reich der habsburgischen k.u.k.-Monarchie gehörte, befand sich hier ein berühmtes Gestütt, es waren die Karpaten- oder Huzulenponys, die in Lutschina gezüchtet wurden.

Damals führte auch ein Weg hinauf nach Lutschina, man konnte aus dem Tal der Goldenen Bistritz mit einem Pferdewagen hinfahren. Die Kutscher und Fuhrleute waren meist Juden, sie trugen hohe Stiefel, schwarze Fellwesten, Schiffermützen und hatten lange Bärte, wie man auf alten Fotos sehen kann. Der Weg aber wurde in den letzten Jahrzehnten immer wieder von einem Bach, dem Kirlibaba, überschwemmt, und heute kann man nach Lutschina am besten zu Fuß wandern, wie die Bergbauern und Hirten. Es ist ein vergessenes Dorf in den Karpaten, wo man meint, die Zeit sei stehen geblieben. Die Menschen aber haben sich in ihrer Einsamkeit eingerichtet: sie leben demütig dahin, so, wie einst, wie vor hundert Jahren, wie immer: „Was Gott uns schenkt, das reicht uns.“

Bei Lutschina gibt es eine alte Brücke, die über einen Gebirgsbach führt. Es heißt, dass sie, bevor die Menschen herzogen, von den Karlyky, den hünenhaften Wesen erbaut wurde. Hier, erzählt die Sage, versammeln sich einmal im Jahr die Sperlinge aus allen Himmelsrichtungen. Das geschieht dann, wenn die Huzulen in den vielen kleinen Weilern und Bergdörfern den St. Skoupnik-Tag feiern. An diesem Tag, so die Überlieferung, erscheint jedes Mal auch der Teufel mit einem riesigen Scheppa, einem Holzmaß, in das er alle Sperlinge hineinwirft, um zu sehen, wie viele Vögel dieser Art es noch gibt. Dann behält er einen Teil für sich, und die anderen läßt er wieder fliegen.

Jene Gegend im Nordosten Rumäniens, die wiederum heute in der Südbukowina liegt, in einem Gebiet, das 855 qkm umfaßt – denn die Nordbukowina mit der alten Hauptstadt Czernowitz (rum. Cernauti, ukr. Cernivci) gehört seit der Abtretung,1940, zur Ukraine –, jene vergessene Grenzlandschaft mit dunklen Wäldern und geheimnisvollen Tälern, von Lutschina bis zu den Obtschina-Gebirgen, heißt bei den dort siedelnden Bergbauern Huzulschtschyna: das Land der Huzulen, etwa 150 qkm groß. Benannt wurde es nach einem Volksstamm, der einen archaisch klingenden, ukrainischen Dialekt spricht und bei statistischen Zählungen meist zusammen mit den Ruthenen genannt wird, die jedoch jenseits der Gebirge, in der weiter westlich gelegenen Maramuresch (Marmatien) leben.

Fährt man mit dem „Accelerat“ von Bukarest nach Suceava (Suczawa) – Hauptstadt der Südbukowina, mit heute 76.527 Einwohnern –, hält der Zug eine Minute lang in Pojorîta, einem Dorf, das an drei Gebirgsflüssen liegt: Moldova, Giumalau und Putna. Wo die Landschaft sich zu den hohen Gebirgen hin öffnet, weil diese, sagt man, den tiefen Himmel stützen, ein Himmel, der immer nahe ist, auf den weiten Wiesen bei Pojorîta soll einst das Paradies gewesen sein. So jedenfalls erzählen die alten Bergbauern. An jene Zeit erinnern heute noch zwei Berge: Adam und Eva. Fragt man, welcher von den beiden der Adam und welcher die Eva sei, bekommt man zur Antwort: „Leicht zu erkennen. Der größere, mit dem steilen Felsen ist der Adam, der kleinere, mit den lieblichen Auen, ist die Eva.“

Pojorîta hieß einst auf deutsch Poschoritta, als hier, vor 1940, außer Rumänen und Huzulen auch Deutsche, sogenannte Zipser, meist Bergleute, und einige jüdische Familien lebten. Weiter östlich siedelten auch andere Ethnien, wie die Philipponen oder Lippowaner, russische „Altgläubige“, und die Karaimen (Karäer), eine jüdische Sekte, angeblich Nachkommen der turksprachigen Chasaren, die einst im 8. Jh. zum Judentum übergetreten waren. Die letzten Deutschen wanderten im Sommer 1990 nach Deutschland aus, die letzten Juden, jene die den Holocaust, die Deportationen in die rumänischen Todeslager überlebt hatten, waren bereits im Zuge der Alija, zu Beginn der fünfziger Jahre nach Israel ausgewandert. An diese beiden Volksgruppen erinnern heute nur noch die zugewachsenen Friedhöfe – der „Ort der Ruhe“ und der „Gute Ort“. Auf beiden findet man Namen und Inschriften in deutscher Sprache und gotischer Fraktur, auf dem einen aber gibt es auch einige alte, gebeugte Steine mit hebräischen Schriftzeichen und Symbolen. Sie stehen stumm da, als würden sie mit geschlossenen Augen dem eiligen Zirpen der Grillen lauschen.

„Wenn Sie draußen in der Welt vom Volk der Huzulen berichten wollen, dann müssen Sie Sagen erzählen, die Geschichten aus dem Volk, denn das Leben dieser Menschen besteht hauptsächlich aus Geschichten und Sagen, und niemand weiß so genau, ob sie wahr sind, aber erzählt werden sie immer wieder“, meint Grigore Hau, Rentner und Heimatkundler, der jeden Tag zweimal zum Zaun seines Gartens geht, um den Zügen nachzuschauen, die hier vorbeischnaufen und dann ein Kilometer weiter beim kleinen Bahnhof kurz anhalten. Warum er das tut? „Es geschieht ja sonst nichts bei uns, hier, am Ende der Welt, und manchmal winkt mir jemand, den ich aber nicht kenne, aus dem fahrenden Zug.“

Pojorîta liegt am Eingang eines gewundenen Tales, das aufwärts führt und immer wieder sein Gesicht verändert. Entlang der Moldova, des Moldauflusses, kommt man durch Orte, die Fundu Moldovei ( Luisental), Pîrîul Cailor )Pferdgraben), Colacu, Botus (Botesch), Branistea, Breaza (Braaß) heißen, und seitwärts öffnet sich immer wieder die Sicht in einsame Täler, mit Weilern und kleinen Streusiedlungen, die auf keiner Karte verzeichnet sind. Bei Breaza, 19 km nördlich von Pojorîta, heißt es, beginnt die eigentliche Huzulschtschyna, das alte Huzulenland, ein Gebiet, das über die rumänische Grenze hinweg, von hier nur noch 22 km entfernt, bis in die ukrainische Nordbukowina reicht, bis in die Nähe von Kolomyja (Kolomea). In dieser Stadt im früheren Lodomerien, das ebenfalls Teil der k.u.k.-Monarchie war, lebten einst außer Ukrainern, auch Juden, Polen und einige deutsche Familien. Die Huzulschtschyna aber, insgesamt 18.000 qkm groß, grenzt dann weiter nördlich an die Bojkivschtschyna, an das Bojkenland, wo ein anderer slawischer Volksstamm siedelt – die Bojken.

Das Volk der Huzulen (rumänisch „hutani“), eine ethnische Minderheit, die sich gern als „eigenständige Nationalität“ bezeichnet, auch wenn die Statistiken das nicht immer wahrhaben wollen, beträgt, nach 1990 durchgeführten Zählungen rund 30.000. Bei der Zählung vom 21. 2. 1956 wurden 60.479 Einwohner als „Ukrainer, Ruthenen und Huzulen“ registriert. Diese Zahl hat sich inzwischen auf über 70.000 erhöht, wobei ukrainische und rumänische Politiker sie jeweils nach oben oder nach unten zu verändern versuchen. Die Hauptorte, wo rumänische Huzulen leben, sind Vatra-Moldovitza, Moldova-Sulitza mit Lucina (Lutschina), Izvoarele Sucevei, das schon nahe an der ukrainischen Grenze liegt, dann, entlang der Bahnlinie nach Radauti (Radautz), Ulma, Nisipitu, Paltin, Brodina, Falcau, Straja (Strascha), Vicovu de Sus (Oberwikow).

Hinzu kommen noch einige gemischtethnische Dörfer und Weiler an der Goldenen Bistritz, zwischen Iacobeni (Jakobeny) und Cîrlibaba Veche (Mariensee), wie Ciocanesti, Valea Stînei (Hüttenthal), Edu (Jed), und Tibau (Zibau), wo übrigens, 1911, der bekannte jiddische Dichter Kubi Wohl geboren wurde. Zu jener Zeit waren selbst kleine Orte wie dieser, mit huzulischen, rumänischen, jüdischen und zipserdeutschen Einwohnern, multikulturell geprägt, weshalb man auch die in vieler Hinsicht tolerante Bukowina gern als „Europa en miniture“ bezeichnet hat. Diese Verhältnisse änderten sich grundlegend nach dem letzten Weltkrieg, und im heutigen Verwaltungskreis Suceava, in der ehemaligen Südbukowina, die nun 8555 qkm umfaßt, kann man von insgesamt 486 Gemeinden und Dörfern rund 22 (mit dazugehörenden Weilern) als huzulische Siedlungen bezeichnen.

In Moldova-Sulitza, einer Großgemeinde mit 1230 Einwohnern, wo auch heute noch überlieferte Traditionen gepflegt werden, lebte bis vor zwei Jahrzehnten ein russisch-orthodoxer Priester, Michail Siniavski, der sich als Volkskundler einen Namen gemacht hat. Er forschte auch nach der Herkunft dieses Bergvolkes und vermerkte in seinen Aufzeichnungen in ukrainischer, rumänischer und deutscher Sprache, daß es ich bei den Huzulen um ein Turkvolk handelt, das sich einst, vermutlich nach der Völkerwanderung, hier in den tiefsten Karpaten niederließ, später dann von Mönchen und zugewanderten Popen christianisiert und dadurch slawisiert wurde. Andere Historiker meinen, daß ab dem 17. Jh. Teile der ukrainischen Gebirgsbevölkerung, darunter auch geflüchtete Fronbauern, nach Südosten, in die Bukowina abgewandert sind, um sich zuerst am Oberlauf des Tscheremousch-Flußes und später weiter südlich anzusiedeln. Tatsache ist, daß es sich beim Huzulischen um ein ukrainisches Idiom, bzw. einen südgalizischen Dialekt mit knapp 20 Prozent polnischen, rumänischen und deutschen Lehnwörtern handelt.

Seit der politischen Wende, 1990, gibt es in Moldova-Sulitza, wie auch in einigen anderen größeren Siedlungen, wieder Unterricht in ukrainischer Sprache. Doch wenn die Jugendlichen dann eine Berufsschule oder das Gymnasium in der nächsten Stadt, Cîmpulung Moldovenesc (Moldauisch-Kimpolung), besuchen, wo heute nur rumänisch unterrichtet wird, entfernen sie sich immer mehr von ihrem Idiom, das dann später bestenfalls nur noch als Familiensprache erhalten bleibt. Ähnliche Probleme haben auch die weiter westlich, in der Maramuresch (Marmatien) siedelnden Ruthenen. Auch dort gibt es Schulen mit ukrainischer Unterrichtssprache, wie z.B. in Poienile de sub Munte (Reußenau) und Rona de Sus (Oberrohnen), doch in vielen, einst vorwiegend ukrainischen Ortschaften – mit wenigen jüdischen, deutschen, ungarischen, slowakischen und armenischen Einwohnern –, zwischen Sighetul Marmatiei (Sigeth) und Viseu de Sus (Oberwischau), wie Petrova, Ruscova, Bistra, Crasna (Kraßna-Wischau), Valea Viseului (Wischauthal), Leordina (Leordinen), wird heute meist rumänisch gesprochen, wobei die Rumänen oft ukrainische Nachnamen haben.

Doch in Sulitza, wie der Ort bei den Einheimischen heißt, ist die Welt in vieler Hinsicht noch „heil“, könnte man als Außenstehender meinen. Hier werden immer noch zu Ostern die berühmten huzulischen Pesanky, Hühner- und Gänseeier, kunstvoll bemalt, und die feinsinnigen geometrischen Muster geben oft den Rahmen zu miniaturhaften Darstellungen vom auferstandenen Heiland, von Heiligen und ihren Wundern, von Tiergestalten aus der Volksmythologie. Und wenn an herbstlichen Sonntagen, vor der farbigen Kulisse der weiten Laubwälder – es ist die Bukowina, das Buchenland –, wenn an der alten Kirche die Toaka, das hell klingende Schlagbrett ruft, erscheinen die Frauen zum Kirchgang, wie immer in weißen, gestickten Blusen, mit bunt verzierten Pelzwesten, rotgestreiften Kopftüchern, mit Katrinze, den buntwolligen, zweiteiligen Schürzen, und am Hals tragen sie mehrere Reihen glitzernder Glasperlen, ebenso Ketten aus Münzen und kleinen Kreuzchen.

Zuerst aber betreten die Männer, in Stiefeln, schwarzen Filzhosen und Pelzjacken das Gotteshaus. Denn sie stehen vorne, im Naos, gegenüber dem Ikonostas, der Ikonenwand, und dahinter befindet sich, nicht sichtbar, der Altartisch. Die Frauen bleiben im Vorraum, dem Pronaos, der gleich nach dem Eingang beginnt. Diese Separierung hat einen guten Grund. Während des Gottesdienstes kann man die Frauen so nicht sehen, und diese wiederum erblicken nur die Rücken der Männer. Auf diese Weise kommt niemand auf „abwegige Gedanken“, heißt es. Die natürliche Anmut und Schönheit huzulischer Mädchen und Frauen wurden immer schon von ukrainischen Dichtern, wie Jurij Osyp Fedkovyc und Ivan M. Valyhevyc, besungen, und da hat sich, das kann man sehen, bis heute nichts geändert.

Im Gespräch mit älteren Menschen merkt man dann bald, daß die großen Ereignisse jenseits der Berge ihren Alltag kaum berühren. Bukarest, die Landeshauptstadt, liegt weit weg, so weit, daß man hier im Jahr 2002 oft nicht weiß, wie der wieder gewählte Präsident heißt: „Iliescu? Den kennen wir nicht, ist vielleicht aus Kimpolung.“ „Er ist der Präsident des Landes.“ „Unser ‚Präsident’ ist der Herr Pfarrer. Was er sagt, ist richtig.“ In manchen Wohnhäusern hängt auch heute noch in der Wohnstube das Bild Kaisers Franz Joseph – es hat alle Zeiten überlebt, zahllose Fliegen haben ihre Spuren hinterlassen, und so ist es still vergilbt. Darunter, in respektvollem Abstand, steht in steifer gotischer Handschrift der Name des Huzulen, der einst in Czernowitz oder sonst wo seinen k.k. Militärdienst abgeleistet hat. Neben dem Namen befindet sich ein kleines rundes Fenster, aus dem der Soldat von einem Foto herausschaut. Inzwischen aber hat sich die Welt draußen nach bald neunzig Jahren verändert.

Doch nicht nur der Präsident im fernen Bukarest ist hier eine unbekannte Größe, auch die Helden der sogenannten Revolution, die Helden von der Filmleinwand, die schönen Lieblinge der Fernsehfreunde, deren Bilder die neuen hauptstädtischen Illustrierten bevölkern, sie bedeuten hier nichts, und es scheint, als würde es sie gar nicht geben. Und das darum, weil oben in den abgelegenen Gehöften kaum jemand einen Fernseher besitzt. Das Weltgeschehen, sonstwo allabendlich frei Haus geliefert, hat noch nicht Eingang gefunden in die alten Koliben, die Holzkaten. Dort knistert abends das Feuer auf dem Pripetschik, dem Steinofen, und nachts ruft aus dem Wald der Huhuretz. Dieses phantastische vogelhafte Wesen spielt in der karpatischen Mythologie eine besondere Rolle, denn aus seinem pfeifenden Klagen deuten die Wahrsagerinnen, was die Zukunft bringen wird – Krankheit oder Tod, gute oder böse Zeiten.

Außerdem haben die Huzulen immer noch ihren eigenen und einzigen, „wirklich großen“ Helden, der zwischen 1810 und 1850 gelebt hat und dessen legendäre Taten in zahlreichen sagenhaften Überlieferungen lebendig geblieben sind. Es ist Dobusch, der edle Räuber und Heiduck, ein Mann aus dem Volk der Karpaten, der von den Reichen nahm – das waren meist polnische Adlige, armenische oder jüdische Kaufleute – und den Armen gab. Die Armen aber waren die huzulischen Bergbewohner, und das sind sie eigentlich auch heute noch, denn in dieser Hinsicht hat sich hier ebenfalls wenig geändert.

Dobusch, an dessen schattenhafte Präsenz überall Höhlen, Felsen und Quellen erinnern, die seinen Namen tragen, der edle Heiduck hat inzwischen messianische Größe erreicht, denn einst, so der hoffnungsvolle Volksmund, wird er aus der „Oberen Welt“ zurückkehren, um die Reichen und Ungerechten zu richten – und das dürfte ihm nicht schwer fallen. Denn er allein, heißt es, besitzt eine wundersame göttliche Gabe: Er vermag schon auf den ersten Blick zu erkennen, ob „ein Hochgestellter“ eine Lüge spricht. Ein Glück also, daß Dobusch bei seiner Wiederkehr sich nur in den Karpaten aufhalten wird.