Großvaters Besuchsreise zu den verwandten Ansiedlern

in der Bukowina vor über 100 Jahren

Wenzel Bauer

Der Südostdeutsche, 15. Juni 1978
Veröffentlicht mit Genehmigung 5. September 2004


Der böhmerwäldler Zeitschrift „Hoam” (Nr. 8/1969) entnahmen wir die nachstehende Schilderung aus der Ansiedlerzeit der Deutschböhmen in der Bukowina. Sie ist für alle Buchenlanddeutschen von Interesse. – Die Redaktion


In der Bukowina, dem östlichsten Kronland der österreichisch-ungarischen Monarchie, entstanden um 1835 mehrere deutsche Dörfer. Die Ansiedler stammten aus den Böhmerwald-Dörfern Seewiesen, Kurkenthal, Stadln, Zwoischen, Langendorf, Rehberg, Eisenstraß und Hammern.

Es waren Bauern, Handwerker und Holzhauer, 252 an der Zahl, die einem kaiserlichen Aufruf folgten und Neuland erschlossen. Unter diesen Aussiedlern waren auch zwei vom Stollerhof in Stepanitz stammende Söhne. Meine Urgroßmutter, Maria Anna geb. Weber, war eine Schwester derselben und hatte auf den Fischerhof in Kundratitz geheiratet. Von deren Kindern war mein im Jahre 1830 geborener Großvater der älteste Sohn.

Die ausgewanderten Brüder meiner Urgroßmutter siedelten im buchenländischen Kreis Radautz und errichteten mit den anderen Böhmerwäldlern die Dörfer Schwarzthal und Schwarzwasser. In den von ihnen gerodeten Buchenwäldern entstanden ihre Äcker und Weidegründe mit den Siedlerbehausungen.

Es mußten harte Jahre der Urbarmachung überstanden werden, doch alle paar Jahre gingen doch immer Lebenszeichen an und von den Anverwandten hin und her.

Um das Jahr 1856 schrieben sie wieder in die Heimat, daß es nun aufwärts gehe, sie sich eingelebt hätten und auch ihr Auskommen fänden. Der eine Bruder der Großmutter hatte sich eine Landwirtschaft erarbeitet, während der andere eine Brettsäge betrieb.

Sie schrieben auch, daß noch genug Siedlungsland vorhanden wäre, und es könnten noch Landsleute drüben ihr Brot finden.

Von den Söhnen meiner Urgroßmutter waren noch mein Großvater Josef und der Jüngste (Thomas) zu Hause am Hofe. Beide waren ledig und arbeiteten mit den Eltern. Gar gerne hätten sie sich die in der Heimat mit den Aussiedlern getroffen, doch zu der damaligen Zeit waren solche Entfernungen von über 1 000 Kilometern kaum zu bewältigen. Nach langen Überlegungen wagte sich der Großvater auf die Reise, und nach dem Frühjahrsanbau hatte er seine Vorbereitungen getroffen. Die Fahrtroute hatten die Verwandten beschrieben, so wie sie selbst mit ihrem Treck hinausgezogen waren. Vor das neue Steierwagl, spannte er das junge Pferd, verstaute seine Habe, Proviant und dergleichen, und mit dem Segen der Eltern fuhr er los.

„Gefällt mir’s, bleib ich fort — dann soll Thomas den Hof nehmen, wenn nicht, dann komm ich bald wieder”, so rief er noch zurück.

Und er schaffte es. Nach einem Vierteljahr kam er von den Verwandten zurück, freudig daheim wieder aufgenommen. Viel gab’s zu erzählen, und noch im hohen Alter sprach er oft von der Fahrt und dem Erlebten und Gesehenen.

Er konnte anschaulich erzählen und war überhaupt ein recht unterhaltsamer Mann, der Unternehmungslust und Humor besaß. Die Hinfahrt, so behauptete er immer, war das schwerste. Über Wien, durch die Slowakei und Galizien kam er in die Bukowina, fand Radautz und frug sich durch zu den Neukolonisten.

Die beiden Onkels mit ihren Familien konnten es fast nicht glauben, daß nach über 20 Jahren ein Besuch aus der Heimat gekommen sei. Wie ein Lauffeuer machte es bei den Landsleuten die Runde, „einer von daheim ist gekommen”. Nun nahm das Fragen und Antworten, das Händedrücken und Erzählen kein Ende. Jedes Haus mußte er besuchen, und viel gab’s zu bestaunen und verwundern.

So vergingen an die vier Wochen, und alle waren gastlich und hilfsbereit. Immer hieß es: „Bleib und siedle bei uns.” Land gab es genug, und alle boten ihre Hilfe für die Seßhaftmachung an. Es wäre wohl ein Auskommen dort gewesen, und obwohl die Gegend ananders wie daheim war, hätte man sich auch einleben können. Es gab weite Buchenwälder, und die gerodeten Gründe waren fruchtbarer als daheim im Böhmerwald. Doch bis es soweit war, muß harte Arbeit und Schweiß dies erzwingen. Ohne eigene Familie und nur bei der Hilfe der Landsleute erschien ihm dies ein bedenkliches Unterfangen. Es hätte zuviel Beschwer für die Verwandten bedeutet.

Nach diesen Überlegungen verabschiedete er sich von den Landsleuten und ließ sich nimmer zum Bleiben bewegen. „Ich muß heim! Auch dort wartet Arbeit auf mich. Gesehen habe ich euch, habe die Grüße von daheim gebracht, haben uns ausgesprochen. Ihr habt euch eine neue Heimat geschaffen, und eure Leistungen bewundere ich.”

So redeten sie noch mancherlei. Als sie den Großvater noch drängten und ihn nicht fortlassen wollten, wurde er ärgerlich und wehrte sich mit: Bei euch sagen sich ja die Füchse gute Nacht! Daheim ist daheim!” Wahr wohl mehr scherzhaft gemeint, doch sichtlich verstimmt war der Abschied, als er mit seinem Gefährt wieder losfuhr.

Das ungute Gefühl über den schweren Abschied von den Landsleuten schwand mit jedem Kilometer, den er näher nach Hause kam. Leichter und schneller schien ihm die Heimfahrt, und die Freude, heimzukommen, wurde übermächtig. Als die galizische Landschaft hinter ihm lag und er wieder in deutschsprachige Gegenden kam, lief ihm das Rössel zu langsam, die Getreideernte rief und die heimatlichen Berge und das Elternhaus sehnte er herbei.

Doch dann war es soweit! Bis in die nachtschlafende Zeit war er nur mit kurzen Pausen getrabt, und auch das Pferd griff, trotz der Überforderung, noch rüstig aus. Gottlob, das Dorf, das Elternhaus, waren erreicht, und glückselig schloß die weite Reise mit der elterlichen Begrüßung.

Nun nahm in den nächsten Tagen und Wochen das Erzählen und Fragen kein Ende. Aus allen Dörfern, die Verwandte unter den Aussiedlern in der Bukowina hatten, kamen die Leute, um Nachfrage zu halten und Neues von ihnen zu erfahren.

Von manchen Erlebnissen der Fahrt wußte der Großvater zu berichten. In einem galizischen Dorf wollte er sein Pferd in einem Weiher tränken, als etliche Leute ihn unter Rufen und Gesten davon abhielten. Da wurde er sich klar, daß es sich um Salzquellen handelte und das Wasser auch für Tiere ungenießbar und schädlich sei. Auch Raubwild streifte noch in Waldungen, und besonders Wölfe waren gefürchtet. In einem Huzulendorf hielt er einen Ruhetag und bestaunte deren Schafherden und das Melken derselben. Das Melken durch die Hirten war interessant; die Lämmer stellten sich, die Hinterbeine gespreizt, auf und wurden von hinten gemolken. Dabei passierte es nicht selten, daß „Kaffeebohnen” von den Tieren mitgeliefert wurden. Doch dies war immer gleib behoben, ein Griff des Melkers in den Melkeimer und die Bohnen flogen heraus. Seitdem mochte Großvater keinen Schafkäse mehr. So wußte er noch viele Beobachtungen über nette und gefährliche Erlebnisse aus dieser Besuchsreise sowie über Land und Leute, wochenlang allein „Mann und Pferd” unter fremdsprachiger Bevölkerung in oft unwegsamen Gegenden und dann wieder in menschenarmen Landesteilen. Ein guter Schutzengel muß damals schon dabei gewesen sein, behauptete er.

Eine derartige Alleinfahrt zu damaliger Zeit war schon ein Un­terfangen, das nur ein junger Bursche mit Abenteuerlust und starkem Willen bewältigen konnte.

Rückblickend meinte der Großvater, es ist halt ein Unterschied, ob man mit einem Aussiedler-Treck auf Landsuche geht, denn die brechen alle Brücken hinter sich ab, oder ob man nur zu Besuch und etwaigem Siedeln in die Fremde fährt und immer nur Vergleiche zwischen dort und daheim prüft und die Heimat einem offen und gewahrt bleibt. Wenzel Bauer